Ein Lied für Ella Grey

Ella und Clare sitzen gelangweilt ihr letztes Schuljahr ab, die Gedichte von John Milton und John Donne sind zum Gähnen und warum sollten sie sich ausgerechnet für ein „Verlorenes“ Paradies interessieren. An den Ausflügen der Clique an die Küste, zur Erholung und zum Kraftschöpfen, nimmt allerdings nur Clare teil, Ellas Eltern sind zu streng und erwarten volle Konzentration auf die Schule. Und dann kommt der Streuner Orpheus mit seiner Lyra nach Northumberland und verzaubert sie alle, die Mädchen wie die Jungen, die Vögel und die Seehunde, die Schlangen. Sogar die Steine und der Sand „zischten im Rhythmus von Orpheus‘ Lied“. Clare möchte, dass ihre hinreißende Ella teilhat, stellt eine Handy-Verbindung her und Ella lauscht und verliebt sich in die Musik, den unbekannten Sänger, rettungslos und unendlich.
David Almond bleibt sehr dicht an der antiken Vorlage, das macht die Geschichte doppelt spannend. Denn Interessierte können sich auf Spurensuche begeben und lesen zweifach, den Mythos von Orpheus und Eurydike und eine moderne Coming-of-Age-Story über englische Jugendliche, deren erwachsene Zukunft bald beginnen könnte. Beides ist auf kluge und wundersame Weise miteinander verwoben. Clare erzählt vom tragischen Tod ihrer Freundin Ella, die sie liebt und die sie verliert, erst an eine charismatische Figur und dann an den Tod. Ella Grey ist Orpheus schon immer über alle Zeiten verbunden und ihr schreckliches Schicksal wiederholt sich. Beide heiraten bei einer uralten Zeremonie am Strand, mit Freund:innen und Gesang, Ella wird von Schlangen gebissen und stirbt. Orpheus begibt sich ins Totenreich, um seine Frau/Eurydike zurückzuholen, betört Hades, Persephone, sogar Zerberus, begeht aber den bekannten Fehler und Ella bleibt in der Unterwelt.
Der Autor ist ein Meister der Worte, ein Poet im Prosatext und die Übersetzerin hat den einzigartigen Stil herausragend beibehalten; Almonds Bücher sind ein Genuss für Leseästhet:innen. „Ein Lied für Ella Grey“ wurde 2015 zu Recht mit dem Guardian Children’s Fiction Prize ausgezeichnet.
Wie in seinen anderen Büchern geht es um die Magie der Natur, um tiefe Gefühle, den Tod und wie er auf das Leben wirkt. (Und natürlich kritisiert er die Regelschule: Die Jugendlichen können sich hier der englischen Barockdichtung erst öffnen, als sie selbst erste Leidenschaften gefühlt haben.) Glücklicherweise ist das Buch nun, 10 Jahre nach der englischen Ausgabe, auch auf Deutsch erschienen. Die Lektüre ist ein sprachlicher Genuss, die zeitlose Liebesgeschichte ergreifend genug.
Info
Autor: David Almond
Übersetzung aus dem Englischen: Alexandra Ernst
Verlag Freies Geistesleben 2024