Der Duft von Grün
Raven und May-Lin sind ein eingeschworenes Team, auch wenn Raven Pullover trägt, die May-Lin schaudern lassen. Und das liegt nicht daran, dass Raven blind ist und die falsche Farbe trägt. May-Lin urteilt eben schnell, prescht im Leben voran, räumt ihrer Freundin viele Wege frei, während Raven vorsichtig versucht, Schritt zu halten. Bis May-Lin bei einem Unfall zu Tode kommt und Raven ihren Halt im doppelten Sinne verliert. Raven ist untröstlich, registriert aber bald, wie abhängig sie sich hat machen lassen. Ihre übervorsichtige Mutter ist auch nicht hilfreich, und so steckt Raven bei aller Trauer auch in vielerlei Hinsicht fest. Bis Raven Roan kennenlernt, der das Mädchen als Persönlichkeit erfasst und sich um ihre Sehbehinderung nicht schert. Er verliebt sich Hals über Kopf und lässt sich von ihr nicht wegstoßen. Langsam findet Raven aus ihrer Depression und kann plötzlich mithilfe ihres Freundes Dinge entdecken und erleben, die vorher unmöglich waren …
Farben spielen in diesem Coming-of-Age-Roman eine große Rolle. So ist das Leben Rot, wenn man Schmetterlinge im Bauch hat oder Knallrosa, wenn Kaugummiblasen zerplatzen und das Gesicht von einer klebrigen Schicht bedeckt ist. Das titelgebende Grün ist die Farbe des Neuanfangs, so wie auch Raven ihrem Leben eine neue Perspektive geben kann. Die Farbsymbolik wird subjetiv von der Ich-Erzählerin eingesetzt, nicht immer kämen wir allerdings zum gleichen Ergebnis. Die Welt, an der uns das Mädchen teilhaben lässt, ist natürlich von ihrer Blindheit bestimmt, viele Momente sind anfangs von ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit gesprägt. Aber sie entwickelt sich weiter, der Selbstfindungsprosess, die Neuorientierung und die familiäre Ablösung sind auch hier Thema eines typischen Adoleszenzromans. Die Autorin hat einen schlüssigen Charakter mit vielen Facetten geschaffen und ein wichtiges Thema aufgegriffen, das sie überzeugend und angemessen umgesetzt hat.
Allerdings, und das hat mich sehr gestört und und immer wieder aufseufzen lassen, fehlt der Icherzählerin die moderne Jugendsprache und noch viel schlimmer: jeglicher Humor oder nur ein Funken Selbstironie. Das macht das thematisch runde und wichtige Buch anstrengend. Da hilft es auch nicht, wenn jemand als „Käsebrot“ auf- oder abgewertet wird. Ich war jedenfalls froh, als die jammernde Nervensäge Raven mit ihrer großen Liebe Roan endlich die Farbe „Grün“ entdeckt hat.
Info
Autorin: Pamela Sharon
Aus dem Niederländischen: Christine Burkhardt
Verlag Freies Geistesleben 2024