Nordstadt

Nene zieht keine Bahnen mehr im Schwimmbad, Vorwärtskommen, Über-dem-Wasser-Halten ist nicht mehr wichtig. Sie hat eine Ausbildung und nun eine Festanstellung als Bademeisterin an dem Ort, der ihr so viele Jahre Sicherheit gegeben hat. Sie hilft jetzt anderen, nicht unterzugehen. Als Boris kommt und um ein Brett bittet, mit seinem verkrüppelten Bein braucht er eine Schwimmhilfe, verliebt sich Nene auf den ersten Blick in seine Puma-Augen. Und plötzlich kippt ihre mühsam aufgebaute Struktur in die Schieflage.
Dieser atemberaubende Debütroman ist kein üblicher Liebesroman, auch wenn die erste Zeile genau das durch ein „Ich liebe dich“ vermitteln könnte. Wir finden hier stattdessen einen atemlosen Monolog, gehetzte Bekenntnisse, ein Konglomerat aus Sequenzen des Scheiterns. In der Nordstadt ist das Klima rau, hier leben die Menschen am Rand der Wohlstandsgesellschaft. Nene wächst in bildungsfernem Umfeld auf, wird vom trinkenden Vater misshandelt. Das Jugendamt schaltet sich ein, es folgen Aufenthalte in Übergangs-WGs, sie kommt wieder nach Hause und alles beginnt von vorn. Nene will jetzt, als junge Erwachsene, vor allem „vergessen“. Sie hat sich aus ihren toxischen Verhältnissen befreit, den Aufstieg geschafft. Nene ist vor allem „Pragmatik“ und „Ordnung“ wichtig.
Bruno ist gemoppt, gehänselt und drangsaliert worden, seine Mutter hatte ihn damals nicht gegen Kinderlähmung impfen lassen. Seither lebt er mit der Gehbehinderung, den Schmerzen, der Scham, der Ausgrenzung. Wer soll ihn, den Krüppel, vorbehaltlos lieben? Er regiert auf Nene mit Rückzug, Zurückweisung, Aggression, denn er hat sich selbst „abgeschrieben“.
Beide wachsen uns beim Lesen der nur 122 Seiten sehr ans Herz. Die Autorin, selbst Lehrerin, hat ihre Charaktere mit viel Verständnis angelegt, man liest, dass ihr die traumatisierten Figuren und ihre Geschichten wichtig sind. Die Sprache ist derb, die Gefühlswelt chaotisch und das Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung ist geprägt von Angst. Aber trotzdem haben sich Nene und Boris bei all dem Hadern mit sich und den anderen eine gedankliche Moral, eine Empathie bewahrt, die mit Hochachtung erfüllt; sie könnten sich auch gegenseitig eine Stütze sein.
Und so erlaubt ihnen die Autorin vielleicht doch ein Happyend – aber das interpretiert jede/r für sich.
Info
Autorin: Annika Büsing
3. Auflage
Steidl Verlag 2023