Der Morgenstern

Der Morgenstern

Es ist Sommer in Bergen und ungewöhnlich heiß, Krabben kommen an Land, Marienkäfer kleben zu Tausenden an den Scheiben, ein Dachs rumort im Sommerhaus, vielleicht hat er die Katze getötet. Währenddessen geht am Himmel der Morgenstern auf, vielleicht eine Supernova sagen die Expert:innen. Nicht nur die Natur ist aus dem Gleichgewicht, auch neun Menschen geraten aus dem Tritt und in die Lebenskrise. Sie sehen plötzlich Tote oder Erscheinungen und glauben sich selbst nicht mehr. Steuert die Welt unmittelbar auf das Ende zu?

Wir entdecken endlich Karl Ove Knausgård wieder, der nach dem narzisstischen sechsbändigen Gesamtkunstwerk über seinen persönlichen Lebenskampf die Literaturwelt aufgemischt hatte. Und wieder trägt uns die Sogwirkung über 850 Seiten und lässt uns um jede freie Lesestunde ringen. Auch wenn sich Knausgård hier in neun Alter Egos aufspaltet und sein gewohntes Genre verlässt, lesen wir wieder einen unglaublich gutgeschriebenen Roman mit den typischen Ingredienzien. Zwar erweitert der Autor sein Buch um Mystery und Horror, aber das Bedürfnis nach Spiritualität und Glauben, nach Erkenntnis, wird wieder mit dem Alltag in all seiner Ausführlichkeit und Detailverliebtheit eingefangen. Wir verbringen ein paar Sommertage mit der Pastorin Katrine, mit dem Journalisten Jostein, mit Arne, Egil und Turid. Wir rauchen mit den Figuren, schlucken unzählige Drinks, bis uns schlecht wird, wechseln schmutzige Windeln und diskutieren auf dem Markt über die Frische der Meerestiere. Sprach- und Hilflosigkeit herrscht zwischen den Menschen, vor allem zwischen den Partnern, mit Kindern und Eltern, bei viel Gerede um nichts, aneinander vorbei – und mit viel schlechtem Gewissen, doch vor allem sich selbst am nächsten zu sein.

Visionen, Träume, Weissagungen zum Weltenende, Knausgård lässt seine Gedanken streifen, nur Egil „ist vorbereitet“, wie er in seinem Essay schreibt. Bei uns wirken die existenziellen Krisen noch Tage später nach, in Literaturgesprächen, durch Mutmaßungen. Der Morgenstern ist mein Highlight 2022 und jede(r), der/die in nächster Zeit bedacht wird, bekommt einen fantastischen norwegischen Wälzer in Geschenkpapier.

Autor: Karl Ove Knausgård
Übersetzt von Paul Berf
Luchterhand 2022


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